1470 Tage Agenturleben

Nach 1470 Tagen Agenturalltag

Ein Abriss über Vergangenes, Gelerntes und Hängengebliebenes aus einer ganz eigenen Welt

Ich bin noch immer im Web unterwegs. Knapp 6 Jahre Digitalgentur haben mir also nicht die Freude am weltweiten Wunderland genommen. So weit, so gut. Aber was bleibt sonst noch nach so langer Zeit? Freitag ist offiziell mein letzter Tag bei virtual identity. VI ist eine der größten Digitalagenturen im deutschsprachigen Raum und beschäftigt n Haufen talentierter Leute an drei Standorten. Als ich im Herbst 2011 am Wiener Standort gestartet bin, war ich ne durchgeknallte Blitzbirne. Ich habe nicht besonders viel gewusst über Social Media und digitale Kommunikation. Die Neugier war trotzdem groß (danke an FH-Prof. Heinz). Also rein ins Praxissemester bei VI. Schwafeln, tippen, basteln, rumtüfteln, lernen, ausprobieren, failen, weitermachen. Recht schnell habe ich Lust bekommen, noch mehr zu machen. Also weiter mit Festanstellung. Insgesamt sinds dann tatsächlich fast 6 Jahre geworden, in denen ich als Content Creator, Community Manager und Digital Consultant über 20 Unternehmen betreut habe. Bis zuletzt habe ich meiner Oma nicht wirklich erklären können, was sich hinter diesen fancy Berufsbezeichnungen versteckt. Überhaupt gibts in der Agenturwelt so einige Ausrdrucksweisen, die ich nicht vermissen werde.

Dinge so sagen, dass sie Jeder versteht

Buzzwords

Ich gebe es zu. Natürlich habe ich auch mit Buzzwords um mich geschmissen. Diese verbale Suppe aus Englisch, Fachjargon, Neologismen und Bullshit hat mir geschmeckt. Ich habe mich zugehörig und wichtig gefühlt. Geil, wenn der Mittvierziger-Kunde große Augen macht, weil er nicht versteht, was es heißt, wenn ich von irgendwelchen „Interaction Rates“ erzähle. Ne Zeit lang ging das auch ganz gut. Dann saßen mir aber bald junge Menschen gegenüber, denen auch die Suppe aus dem Mund gelaufen ist. Die kannten sich eben auch aus. Das hat mir nicht mehr so gut gefallen. Auf einmal war der Meetingraum vollgebuzzt und die Beteiligten haben sich immer seltener verstanden. Ich habe es mir dann zur Aufgabe gemacht, Dinge so benennen oder beschreiben zu können, dass sie wirklich Jeder versteht. Das macht Kommunikation nämlich um ein gehöriges Stück effektiver und gibt Gesprächspartnern die Chance, tatsächlich mitzureden.

Wer nicht zuhören will, hat wenig interessantes zu erzählen

Zuhören

Jap, die Zwischenüberschrift könnte auch auf einem Nachdenklichen Spruch mit Bild stehen. Das nehme ich aber in Kauf, weil ich vom Inhalt überzeugt bin. Als Community Manager habe ich jede Woche zig Stunden damit zugebracht, im Namen unterschiedlicher Unternehmen mit potenziellen Kunden zu kommunizieren. Hier n Kommi, da n Like, hier ne Frage, da n Emoji – Kommunikation am Fließband, die auch ein talentierter Affe erledigen könnte? Nicht für mich. Ich habe eine diebische Freude daran entwickelt, Nutzer, die mit Unternehmen in Kontakt kommen wollen, kennenzulernen. Manchmal bin ich mit nur ein paar interessierten Nachfragen auf tiefe Wünsche, Bedürfnisse und Ängste gestoßen. Wundervoll. Plötzlich hatte ich eine Verbindung zu gerade noch Fremden und etwas, worüber wir reden konnten. Mitunter sind aus solchen Gesprächen langfristige Partnerschaften oder sogar neue Produkte entstanden. Mittlerweile versuche ich auch abseits vom Arbeitsalltag das mit dem zugewandten Zuhören durchzuziehen. Immer wieder eine belebende Erfahrung.

Eigene Ideen ZUUU geil finden

Eigene Ideen

Ich bin ein großer Fan von Böhmchen und Lollos wöchentlichem Podcast. Als die beiden zum ersten Mal über die Risiken des Selbstabkultens geredet haben, musste ich schmunzeln. Sehr, sehr, sehr oft ist mir nämlich genau das passiert. „Meine Idee ist einfach die geilste. Findste nicht auch, findste nicht auch? Nämlich deswegen. Und deswegen und deswegen.“ Damit habe ich meine Kollegen bestimmt richtig hart genervt. Rausgekommen ist selten etwas. Nach vielen frustrierenden Momenten, in denen meine ach so geilen Ideen nicht umgesetzt wurden, habe ich Kreativität anders kennengelernt. Kreativität ist, die Welt aus den Augen von anderen zu sehen. Eigene Ideen von anderen hinterfragen lassen. Sich der Meinung anderer wohlwollend und offen stellen, um auf neue Dinge zu kommen. Immer gelingt mir das natürlich nicht. Aber es ist zu einer Mission geworden.

Spielen wir was

Spielen

Ich bin ein schlechter Verlierer. Mensch Ärgere Dich Nicht bringt mich zur Weißglut. Genau so wie Monopoly und Co. Während meiner Zeit bei VI habe ich aber Gott sei Dank mehr in Spielen entdeckt. Beim Spielen muss es nicht nur ums Gewinnen gehen. Es braucht auch nicht immer ein Brett, ne Konsole oder einen PC. Spiele verbinden, bringen komplexe Zusammenhänge auf den Punkt und öffnen Ventile, die vor allem im Arbeitsalltag oft vergriesgnaddeln. Das habe ich zum ersten Mal erlebt, als ich mit neuen Teamkollegen Reise nach Jerusalem gespielt habe (that happened!) Nach dem bisschen Gerangel um den letzten Stuhl war die Berührungsangst fürs erste abgebaut. Top! Später habe ich dann als Consultant selbst Spiele entwickelt, um in Workshops vermeintliche Bügelsteif-Kunden und Kreative zusammen zu bringen. Noch topper! Klar, Spiele sind nicht immer zielführend. Ich habe sie trotzdem in meinem Herzen als erfrischende Handlungsalternative abgespeichert.

Schonungslos!

Schonungslos

Vermutlich die Perle unter den Erkenntnissen aus knapp 6 Jahren Agenturalltag: schonungsloses Feedback ist das wertvollste, was einem bei der eigenen Entwicklung passieren kann. Ich habe selbst oft genug weichgewaschene, verklausulierte Rückmeldungen gegeben – Kollegen, Kunden, Chefs. Meistens dann, wenn ich mein Gegenüber nicht verletzen wollte. Oder sonst irgendeine Absicht verfolgt habe. Das bringt leider in den seltensten Fällen was. Feedback ist der Bringer, wenn es im Sinne des Empfängers etwas Tatsächliches spürbar auf den Punkt bringt. Schonungslos und im Kontakt. Dort, wo ich so ein Feedback bekommen habe, bin ich gewachsen. Und dafür bin ich dankbar.

Es kommen andere Tage

Ich habe natürlich noch viel mehr erlebt, mitgenommen und gelernt als all das hier. Mehr mag ich aber gar nicht in die weite Welt hinausposaunen. Soll ja kein Erlebnisbericht werden. Eher eine kleine Schatzkiste. Vielleicht ist für dich ja auch was drin. Ich werde auf jeden Fall einigen Kollegen, Chefs und Kunden immer dafür dankbar sein, dass sie die Kiste für mich und mit mir gefüllt haben.

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