Solitaire in der S-Bahn

Solitaire in der S-Bahn

Eine übervolle S-Bahn, das langweiligste Spiel aller Zeiten und die Gelassenheit des Miteinanders.

Vor zwei Jahren habe ich mein Auto verkauft. Der grundsolide Silberbock von Toyota fährt jetzt vermutlich für irgendeinen Pizzadienst, weil ich ihn einfach nicht genutzt habe. Ganz ehrlich, in Wien braucht man kein Auto und Fernweh empfinde ich eher selten. Dieses ewige Heckmeck mit Pickerl, rostigem Boden, vergriesgnaddelten Bremsscheiben und hast du nicht gesehen ist es mir nicht wert.

Nun fahre ich also immer und überall mit Bus, Bahn, Tram, Bim, Bumms und Bamms, wenn es zum Radfahren nicht reicht. Grundsätzlich mag ich das sehr. Ich beobachte unheimlich gerne die Passant:innenschar. Überhaupt in Wien, weil großer Fan von Frau Spiras Alltagsgeschichten. Ich mag, dass ich so gut wie nichts erledigen kann und Ruhe halten muss. Zwangsentschleunigung. Ich mag sogar die Gerüche bis zu einem gewissen Olf. Macht das ganze Erlebnis ein bisschen reizvoller, finde ich.

Was ich nur sehr schwer ertragen kann, sind übervolle Blechraupen. Da haut es mir in der Regel eine Sicherung raus. Stirnfurchen, verkeilter Kiefer, Hochspannungskörper – Mr. Angry von Roger Hargreaves, nur deutlich runder. Da ärgert mich dann so gut wie alles und Jede:r.

Kürzlich war es wieder soweit. Von Wien Mitte mit der S-Bahn drei Stationen. Frag mich nicht, wo ich hinmusste, oder sollte, weil ist ja alles immer unfassbar dringend und wichtig, was der Alltag auf die ToDo-Liste schreibt. Ich bin also schon mit vorgefurchter Stirn eingestiegen. Dann die Masse an Menschen, die gnadenlos, zwei Schritte nachdem sie eingestiegen sind, stehenbleiben, als wäre ihnen der Akku ausgegangen und auf ihr Telefon starren. Nicht falsch verstehen, ich starre auch ständig wie besessen auf meine Zauberkiste, aber siehe oben.

Nachdem ich mich dann zumindest ein paar Schritte weiter zwischen die Viersitzgarnituren gequetscht hatte, sehe ich eine ältere Dame, die einen Sitzplatz ergattert hat und auf ihrer Zauberkiste Solitaire spielt. Solitaire – das Stiefkind der Smartphonedaddelei. In Zeitlupe drückt sie auf irgendwelche Karten und ich kann nicht anders als mich zu ärgern. Als ich noch kein Internet hatte, habe ich Solitaire auf dem Familienrechner aufgemacht, wenn mir gar nichts anderes eingefallen ist. Und selbst in diesem Ausnahmezustand von Langeweile hat mich das Spiel gelangweilt. Ein kräftiger Typ im Muskelshirt bollert in mich rein. Umfallen kann ich dankenswerterweise nicht. Es ist sehr heiß. Mr. Angry about to blow up.

Und dann sehe ich einen Herrn mit akkurat getrimmtem Bart, der lächelnd über die Schulter der älteren Dame schaut. Was ist mit dem los? Er zeigt mit seinem kleinen Finger auf das Smartphone der Dame.

„Was?“ „Da.“ „Entschuldigung?“ „Da.“

Die Dame lächelt jetzt auch. Anscheinend hat sie einen Punkt bekommen. Oder einen Stich. Oder wie auch immer das bei Solitaire heißt. Ich schaue nicht nach. Stattdessen beobachte ich, wie die beiden quasi im Koopmodus spielen und ich bin kurz raus aus meinem Wahn. Als der Herr aussteigt, lächelt er die Dame an, sie verabschiedet sich von ihm. Es ist immer noch heiß. Die letzte Etappe zur Zielstation nehme ich deutlich gelassener.

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