Herr W. und das gute Leben

Eine Ode an die Ruhe, den Müßiggang und das leibliche Wohl

Nun bin ich schon seit mehr als zwei Jahren Cutter und Interviewer bei Faltenrock FM. Das ist ein Podcast der Caritas Wien, wo Menschen zu Wort kommen, die eher selten zu hören sind: Bewohner:innen von Pflegewohnhäusern. Einer meiner Interviewpartner, Herr W., ist Anfang November verstorben. Von ihm habe ich gelernt, wie man leben kann, wenn man nicht ständig ToDo-Listen, Dienstplänen und sonstigen Verpflichtungen hinterherrennt.

Kennengelernt habe ich Herrn W. 2022. Er saß in einer ruhigen Ecke des Pflegewohnhauses und hat aus dem Fenster geschaut. Kein:e andere:r Bewohner:in in Sicht. „Wissens, hier gibt es nicht so viele Menschen, mit denen ich gerne rede.“ Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich zu jenen gehören würde, mit denen er reden mag, habe ich mich zu ihm gesetzt. Wir haben sicher eine Stunde miteinander geplaudert, ohne ein Wort für den Podcast aufzunehmen. Er hat mir erzählt, dass er schon lange im Pflegewohnhaus lebe, viel über die Welt nachdenke und gutes Essen liebe. Punkt 2 und Punkt 3 waren instant Matches – beides mag und mache ich von Herzen gern.

In den darauffolgenden 2 Jahren haben wir uns alle zwei bis drei Monate gesehen – mal in seiner stillen Ecke, mal in seinem Zimmer. Immer, wenn ich ihn besucht habe, hatte ich ein oder zwei Interviewthemen im Gepäck. Den Gesprächsauftakt hat aber Herr W. gemacht. „Schön, dass Sie da sind. Was sagen Sie eigentlich zu…“ und dann haben wir erstmal die Weltlage besprochen – Krisen, Kriege, Katastrophen. Er wusste viel über die Welt und hatte zu fast allem eine Meinung. Das Taschenradio auf dem Beistelltischchen in seinem Zimmer – sein „Ohr zur Welt“, wie er es genannt hat – hatte nur selten Sendepause.

Wenn es dann gereicht hat: „Reden wir über was Schönes“. Und dann wurde es schön. Oder besser gesagt: lecker. Egal, welches Interviewthema wir auf dem Tisch liegen hatten, am Ende ging es fast immer ums Essen. Köstliche Schweinsbraten mit Knödeln, ein kleines Glas Sekt zum Feierabend und Reinanken. Reinanken kannte ich nicht. „Die müssens probieren, wenn sie am Attersee sind. Himmlisch!“ Natürlich habe ich sie probiert, als ich am Attersee Urlaub gemacht habe. Herr W. hatte Recht. Himmlisch. Eine seiner Lieblingssüßspeisen, die ich vorher auch nicht kannte, waren Terry’s Schokoladenorangen. Die hat er in England kennen- und liebengelernt. Eine ganze Weile hat er dort als Kellner gearbeitet.

„Wissens, gearbeitet habe ich zu viel. Ich habs gern gemacht, aber zu viel wars“, hat er oft gesagt. Umso entspannter hat er es sich gemacht, wenn er dann mal frei hatte. Dann war wirklich Pause. Einmal habe ich ihn für eine Podcastepisode nach einer Lebensweisheit gefragt. „Ab und zu mal gar nichts machen. Das können wenige. Dann setzt man sich hin und hört gute Musik. Und ein Sekterl vielleicht dazu. Herrlich.“ Ich hab seinen Ratschlag zwei Mal befolgt und es war auch ohne Sekt – was soll ich sagen – herrlich.

Bei einem meiner letzten Besuche hat er die Überleitung zum guten Leben nicht mehr so richtig geschafft. Da sind wir hängengeblieben beim Krieg. „Wissens, das da draußen, das ist nicht mehr meine Welt“. Ich habs ihm abgekauft und wir haben ein bisschen geschwiegen.

Herr W., ich wünsche Ihnen, dass, wo auch immer sie jetzt sind, ein Schweinsbraten auf sie wartet. Himmlisch soll er schmecken.

Wer sich mehr Geschichten von Herrn W. anhören mag: Faltenrock FM gibts auf allen gängigen Podcast-Portalen zu hören.

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